04 Sep Die Verjährung von Ansprüchen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung
I. Ausgangsproblematik
Die Verjährung von Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung richtet sich – so die bisher einhellige Meinung – nach § 195 BGB in der Form, dass nach Fälligkeit des Anspruchs das sogenannte „Stammrecht“, d. h. der Anspruch als Ganzes verjährt und nicht die abschnittsweise zu erbringenden Leistungen jeweils für sich. Nunmehr kommt es salopp formuliert zur Rebellion an der bisher nicht umkämpften Verjährungsfront, denn das OLG Jena wendet sich vollends von dieser Auffassung ab. Der Beitrag stellt die Grundzüge der Verjährung von Berufsunfähigkeitsleistungen dar und setzt sich kritisch mit der neuen Ansicht auseinander.
II. Der bisherige Stand von Rechtsprechung und Literatur zum „Stammrecht“
Seit dem 1. 1. 2008 gilt für Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag und damit auch aus der Berufsunfähigkeitsversicherung die Verjährungsregelfrist des § 195 BGB von drei Jahren. Nach dem bisher – soweit ersichtlich – einstimmigen Stand der Rechtsprechung ist für den Beginn dieser Frist i. S. v. § 199 BGB bei Berufsunfähigkeitsansprüchen das Entstehen des sogenannten Stammrechts 1 maßgeblich. 2 Auf „einer Linie“ lag und liegt die Literatur. 3 Dies bedeutet, dass die vereinbarte abschnittsweise Leistung nicht auch abschnittsweise verjährt, sondern die Verjährungsfrist für alle Folgeleistungen beginnt, wenn die Leistungen erstmals fällig i. S. v. § 14 VVG werden 4 und dann der „Gesamtanspruch“ eines geltend gemachten Versicherungsfalls insgesamt verjährt. Das stellt eine Ausnahme von dem allgemeinen Grundsatz dar, dass Ansprüche auf wiederkehrende Leistungen regelmäßig mit der Fälligkeit der einzelnen Leistung entstehen und dann entsprechend verjähren. 5 Dabei handelt es sich also um eine abschnittsweise Verjährung. Dagegen hatte sich der BGH im Versicherungsrecht erstmals in einer Entscheidung zur Unfallversicherung ausgesprochen und den Begriff des Stammrechts geprägt, 6 was dann in zwei Entscheidungen zur Berufsunfähigkeitsversicherung ohne nähere Problematisierung aufgegriffen und bestätigt wurde. 7 Leistungen aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung werden insoweit zu Recht – obwohl es wiederkehrende Leistungen sind – entgegen dem sonst üblichen Grundsatz zur Verjährung von sukzessiv fällig werdenden wiederkehrenden Leistungen aus Dauerschuldverhältnissen als mit Leistungen aus einer Lebensversicherung, Unfallversicherung oder Invaliditätsentschädigung in Form einer Rente vergleichbar angesehen, wo für die Verjährung ebenfalls das Stammrecht maßgeblich ist. 8 Das folgt daraus, dass die grundsätzliche Berechtigung, Berufsunfähigkeitsleistungen (also in der Regel Rentenzahlungen, Prämienbefreiung) zu verlangen, einen Anspruch i. S. d. § 194 BGB darstellt, der als solcher der Verjährung unterliegt; 9 gemeint ist hier ein einziger Anspruch, der „insgesamt“ verjährt, und mit „Stammrecht“ im Kern der Versicherungsfall. Es verjähren also sämtliche Ansprüche aus dem geltend gemachten Versicherungsfall (jedenfalls nach der nunmehr herrschenden Meinung). Benennt der VN in einem anlässlich der Anmeldung von Berufsunfähigkeit übersandten Fragenbogen diverse Erkrankungen als Ursache seiner Leistungseinschränkungen, so begründen diese den Versicherungsfall und das Stammrecht. Das Entstehen des Anspruchs, das in der Regel aus der (ausreichenden) Geltendmachung aufgrund des Leistungsantrags des VN folgt, ist von der kumaltiv erforderlichen Fälligkeit zu unterscheiden, die in den verjährungsrelevanten Fällen meist durch die Ablehnung des Versicherers ausgelöst wird. 10 Oder anders ausgedrückt: für die mit dem Leistungsantrag geltend gemachten Erkrankungen beginnt die Verjährung mit Fälligkeit. Macht der VN mit neuen Erkrankungen oder Beschwerden erneut Leistungen geltend, kann es sich um einen neuen Versicherungsfall handeln, für den dann eine neue Verjährungsfrist zu laufen beginnt.
Dass der VN bei Verjährung des Stammrechts weiter zur Prämienzahlung verpflichtet bleibt, widerspricht der Verjährung nicht, denn diese nimmt dem VN schließlich nicht insgesamt seine Rechte aus dem Versicherungsvertrag, sondern nur im Hinblick auf den jeweils (zu spät) geltend gemachten Versicherungsfall. 11
III. Die Entscheidung des OLG Jena zum „Stammrecht“
Das zuvor Geschilderte war bisher die einhellige Meinung zu dem Thema Verjährung von Berufsunfähigkeitsleistungen. Nunmehr ist dies nicht mehr die einstimmige, sondern die herrschende Meinung, da sich das OLG Jena ausdrücklich dieser Position entgegenstellt. 12
Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde: Im Versicherungsvertrag über eine fondsgebundene Rentenversicherung war zwischen der VN/Kl. und dem Versicherer für den Fall der Berufsunfähigkeit eine Befreiung von der Beitragszahlungspflicht vereinbart. Die als Tanzlehrerin tätige Kl. erlitt am 1. 2. 2009 einen Skiunfall, durch den sie bedingungsgemäß berufsunfähig wurde (was im Rechtsstreit unstreitig war). Im Mai 2010 stellte die Kl. einen Leistungsantrag, der von dem Versicherer am 11. 10. 2010 abgelehnt wurde. Im September 2014 beantragte die Kl. aufgrund anderer Erkrankungen (u. a. Zervikobrachialsyndrom, Asthma) erneut Leistungen, die der Versicherer mit Schreiben vom 2. 3. 2015 ebenfalls ablehnte.
Mit der am 11. 10. 2016 erhobenen Klage machte die Kl. u. a. die Beitragsbefreiung ab März 2009, hilfsweise ab Januar 2012 für die Dauer der bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit geltend. Nach Erlass eines gegen den bekl. Versicherer ergangenen Versäumnisurteils, gegen das dieser fristgerecht Einspruch einlegte und diesen u. a. mit einer Verjährungseinrede begründete, wies das LG die Klage ab. Begründet wurde dies damit, dass die Verjährung des „Stammrechts“ am 31. 12. 2010 begonnen habe, sodass damit alle zukünftigen Ansprüche aus dem Skiunfall vom Februar 2009 lange vor Klageerhebung im Jahr 2016 verjährt seien. Zu dem weiteren Versicherungsfall bezüglich Rückenbeschwerden und Asthma habe die Kl. nicht ausreichend vorgetragen.
Auf die Berufung der Kl. hebt das OLG Jena das Urteil auf und spricht eine Beitragsfreistellung jedenfalls ab dem 1. 1. 2013 zu, weil zum Zeitpunkt der verjährungshemmenden Klageerhebung am 11. 10. 2016 lediglich die bis zum 31. 12. 2012 entstandenen Leistungsansprüche gem. §§ 195, 199 BGB verjährt seien. Der Anspruch sei nur zum Teil verjährt, weil entgegen der bisher einheitlichen Ansicht in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte 13 eine sogenannte „Stammrechtsverjährung“, die daran hindere, die sukzessiven Teilleistungen geltend zu machen, jedenfalls seit der Reform des Versicherungsvertragsrechts 2008 nicht mehr angenommen werden könne. Vielmehr unterfalle nur der einzelne Anspruch auf (Versicherungs-)Leistung, nicht aber ein „Stammrecht“ der Verjährung (gemeint ist die monatliche Beitragsbefreiung).
Gegen die Idee der „Stammrechtsverjährung“ spricht nach Ansicht des OLG schon der eindeutige Wortlaut des § 194 Abs. 1 BGB, wonach „Ansprüche“, nicht aber „Stammrechte“ verjähren. Zudem ergebe die historische Auslegung des BGB, dass der Gesetzgeber zwar eine „Stammrechtsverjährung“ zunächst erwogen, sich aber dann bewusst dagegen und für eine Anspruchsverjährung entschieden habe. 14 Zudem sei eine Trennung von Stammrecht und einzelnen Ansprüchen dem Recht der vertraglichen Schuldverhältnisse fremd. Bei einem Mietverhältnis beispielsweise folge die Pflicht zur Zahlung der Miete (unmittelbar) aus dem Schuldverhältnis, das einen der Verjährung unterfallenden Anspruch begründe, nicht aber aus einem „Stammrecht“. Gleiches müsse für den (schuldrechtlichen) Versicherungsvertrag gelten. Die Leistungspflicht folge aus dem Schuldverhältnis selbst und nicht aus einem zu separierenden „Stammrecht“. Der einzelne Anspruch auf Leistung (und nur der Anspruch) werde dann von § 194 BGB der Verjährung unterworfen.
Weiter wird argumentiert, das Urteil des BGH vom 20. 1. 1955 15 zur Zahlung einer Jahresrente aus einer Unfallversicherung und Verjährung des Stammrechts sei überholt, weil auf § 12 VVG a. F. abgestellt werde und dessen § 12 Abs. 3 VVG a. F. (Klagefrist von sechs Monaten) durch die VVG-Reform 2008 zum Schutz der Verbraucher ersatzlos abgeschafft wurde. Die Sonderregelung des § 12 Abs. 3 VVG a. F. konnte, so der Senat, dahin gehend verstanden werden, dass sie dem Versicherer die Möglichkeit eröffnete, die einzelnen Leistungsansprüche des Versicherten durch einseitige Erklärung zu einem „Gesamtanspruch“ zu verdichten bzw. zu bündeln. Dieses „Anspruchsbündel“ haben man sodann einer einheitlichen Verjährung unterworfen. Der Reform-Gesetzgeber sei davon abgerückt, weil es keinen Grund für eine derartige Sonderregelung im Interesse des Versicherers gebe, sodass sich die Verjährung zukünftig allein nach den §§ 195 ff. BGB bestimmen sollte. 16 Durch den Wegfall des § 12 Abs. 3 VVG a. F. entfalle daher der normative Anknüpfungspunkt für die Idee eines „Gesamtanspruchs“, die der BGH-Entscheidung aus dem Jahr 1955 zugrunde lag. Der Gesetzgeber habe sich vielmehr 2008 im Interesse der VN ausdrücklich für die Anspruchsverjährung nach dem BGB und gegen eine Anspruchsbündelung bzw. „Stammrechtsverjährung“ entschieden. Ansprüche des VN auf wiederkehrende Leistungen verjähren daher nach Meinung des Senats genauso wie Prämienansprüche des Versicherers nach § 195 BGB in drei Jahren. Der Verjährungsbeginn bestimme sich nach § 199 Abs. 1 BGB.
Zudem führt der Senat aus, dass gegen die Verjährung eines „Gesamtanspruchs“ zudem Besonderheiten der Berufsunfähigkeitsversicherung sprechen sollen, weil dem Versicherer „typischerweise“ die Möglichkeit der abstrakten Verweisung zustehe. Konsequenz sei, dass das Bestehen eines Leistungsanspruchs „ständig zu überprüfen ist“. Die Möglichkeit der Verweisung könne dazu führen, dass trotz Vorliegens einer Berufsunfähigkeit ein Zahlungsanspruch nicht bestehe. Auch sei unter Umständen Monat für Monat zu prüfen, ob bei bestehender Berufsunfähigkeit ein Zahlungsanspruch bestehe. Die Annahme der Verjährung eines Gesamtanspruchs würde – so das OLG – für den VN eine erhebliche Rechtsunsicherheit auslösen und ihn regelmäßig zu einer Feststellungsklage zwingen. Das vom Gesetzgeber mit der Streichung des § 12 Abs. 3 VVG a. F. verfolgte Ziel der Verbesserung der Position des VN würde konterkariert. Weitere „Besonderheiten“ der Berufsunfähigkeitsversicherung führt die Entscheidung nicht an.
Die Revision zum BGH wurde wegen der divergierenden OLG-Meinungen zugelassen.
Das OLG Jena geht also von einer abschnittsweisen Verjährung der wiederkehrenden Berufsunfähigkeitsleistungen aus (im Ausgangsfall war dies nur Beitragsbefreiung). Wird beispielsweise nach Ablehnung des Versicherers eine Teilleistung im Juni 2018 fällig, so beginnt deren „eigene“ Verjährungsfrist nach § 199 Abs. 1 BGB mit dem 31. 12. 2018 zu laufen und endet nach § 195 BGB am 31. 12. 2021; Leistungen, die 2019 anfallen, verjähren mit entsprechender Verschiebung dann am 31. 12. 2022.
IV. Zur dogmatischen Gleichsetzung mit anderen Schuldverhältnissen (insbesondere Miete)
Die vom Senat zunächst vorgenommene gründliche Auslegung nach Wortlaut und Gesetzeshistorie ist zwar vertretbar und trifft auch bei fast allen Schuldverhältnissen den Kern. Eine zwischen Versicherer und VN abgeschlossene Berufsunfähigkeitsversicherung ist aber kein „normales“ Schuldverhältnis und insbesondere nicht mit dem vom Senat herangezogenen Mietverhältnis vergleichbar.
Im Mietrecht ist für Wohnraum die Fälligkeit des Mietzinsanspruchs ausdrücklich in § 556 b Abs. 1 BGB geregelt. Der Mieter hat danach die Miete „zu Beginn“ der einzelnen Zeitabschnitte zu entrichten, „spätestens bis zum dritten Werktag“, sodass sich auch die Verjährung nach dieser abschnittsweisen Fälligkeit richten muss. 17 Eine solche gesetzliche Regelung existiert für Berufsunfähigkeitsleistungen nicht. Im Mietrecht beruhen die wechselseitigen Hauptpflichten (Überlassung der Flächen durch den Vermieter, Mietzahlung durch den Mieter) zwar auf dem schuldrechtlichen Abschluss des Mietvertrags, die Mietzahlungspflicht entsteht nach dem Willen des Gesetzgebers aber abschnittsweise neu. Die korrespondierende Gebrauchsüberlassungspflicht des Vermieters, also der mietvertragliche Überlassungsanspruch aus § 535 Abs. 1 BGB kann nach – soweit ersichtlich – überwiegender Ansicht während der Mietzeit überhaupt nicht verjähren, weil es sich um eine vertragliche Dauerverpflichtung handelt, die während des Mietzeitraums ständig neu entsteht. 18 Das deutet zwar augenscheinlich auf eine abschnittsweise Verjährung dieser Leistungspflicht des Vermieters hin, tatsächlich liegt dies aber nicht vor, weil es entscheidend ist, dass die Fälligkeit des Anspruchs auf Überlassung nur ein Mal mit Abschluss des Mietvertrags entsteht, was einer Art „Stammrecht“ recht nahekommt. Obwohl die abschnittsweise Verjährung von offenen Mietzahlungsansprüchen die Regel ist, wird daher (sogar) im Mietrecht im Hinblick auf die Gebrauchsüberlassungspflicht des Vermieters für bestimmte Fälle diskutiert, ob dann, wenn der Mietgebrauch vom Vermieter nicht überlassen wird, die Verjährung von Schadensersatzansprüchen des Mieters „sofort komplett“ oder abschnittsweise in Gang gesetzt wird. Nach zutreffender Auffassung des KG ist bei einer (schuldrechtlich möglichen) Doppelvermietung der für den Beginn der Verjährungsfrist maßgebliche Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs i. S. v. § 199 Abs. 1 BGB mit Eintritt der Unmöglichkeit und eines ersten (Teil-)Schadens anzunehmen; die Unmöglichkeit tritt nicht erst nach einzelnen Zeitabschnitten ein, weshalb auch der Schadensersatzanspruch nicht abschnittsweise entsteht und verjährt. 19 Dies entspricht der „Stammrechts-Thematik“ im Berufsunfähigkeitsrecht. Dies alles verdeutlicht, dass der vom OLG Jena gezogene Vergleich zum Mietrecht hinkt und auch dogmatisch keine Grundlage hat.
V. Zu den Besonderheiten der Berufsunfähigkeitsversicherung
Dass es sich verbietet, die Berufsunfähigkeitsversicherung und andere Schuldverhältnisse über den gemeinsamen „Kamm des Schuldrechts zu scheren“, folgt vor allem aus den vom OLG Jena verkannten Besonderheiten, die auf dem speziellen Leistungsversprechen des Berufsunfähigkeitsversicherers beruhen. Dafür sind drei Aspekte relevant, von denen jedenfalls die beiden letztgenannten in anderen Schuldverhältnissen nicht vorkommen: der Eintritt des Versicherungsfalls, die daraus folgende Abgabe eines bindenden Anerkenntnisses durch den Versicherer und das Erfordernis eines formell und materiell wirksamen Nachprüfungsverfahrens als Voraussetzung für den Entfall der Leistungspflicht und die „Beseitigung“ des Anerkenntnisses.
Der Versicherer verspricht die Berufsunfähigkeitsleistungen für den Fall, dass der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit eingetreten ist – insoweit versicherungsrechtlich noch „nichts Besonderes“ –, und zwar so lange bis – das ist eine Besonderheit – ein erfolgreiches Nachprüfungsverfahren i. S. v. § 174 VVG bzw. den in allen Versicherungsbedingungen enthaltenden Nachprüfungsklauseln durchgeführt wurde. Eine abschnittsweise Leistung ist gesetzlich nicht vorgeschrieben, § 172 Abs. 1 VVG spricht lediglich davon, „die vereinbarten Leistungen“ zu erbringen sind. Der leistungsauslösende Versicherungsfall ist eingetreten, wenn der VN ab einem bestimmten Zeitpunkt berufsunfähig im Sinne der konkret vereinbarten Versicherungsbedingungen geworden ist. Dies bedeutet, dass alle tatbestandlich im Bedingungstext formulierten Anspruchsvoraussetzungen sowie etwaige ungeschriebene Voraussetzungen vorliegen müssen (etwa die von der Rechtsprechung entwickelte nicht mögliche bzw. unzumutbare Umorganisation bei Selbstständigen). Ist dies der Fall, muss der Versicherer – so sehen es auch die Versicherungsbedingungen vor – ein Anerkenntnis abgeben; für den Fall, dass er dies nicht macht, hat die Rechtsprechung das sogenannte fingierte Anerkenntnis entwickelt. 20 Das Anerkenntnis hat eine Bindungswirkung, die dazu führt, dass der Versicherer sich grundsätzlich nur noch durch das bedingungsgemäß vorgesehene Nachprüfungsverfahren von der Leistung befreien kann. Dabei kommt es zu einer Umkehr der Beweislast, d. h. der Versicherer muss nun beweisen, dass die Berufsunfähigkeit entfallen ist.
Der Versicherungsfall in der Berufsunfähigkeitsversicherung ist damit ein sogenannter gedehnter Versicherungsfall. 21 Gedehnte Versicherungsfälle sind auch in der Krankheitskosten-, der Unfall- oder der Betriebsunterbrechungsversicherung anerkannt. Ein Wesensmerkmal des gedehnten Versicherungsfalls ist nicht sein schrittweises Eintreten, sondern die Fortdauer des bereits mit seinem Eintritt geschaffenen Zustands über einen mehr oder weniger langen Zeitraum, sofern diese Fortdauer nicht nur bestimmend ist für die Pflicht des Versicherers zur Erbringung einer einmaligen Versicherungsleistung, sondern deren Umfang im Einzelfall erst bestimmt. 22 Oder sehr vereinfacht ausgedrückt: Es gibt einen (einzigen) Auslöser für die Leistung, der dafür sorgt, dass diese künftig dauerhaft erbracht werden muss. Dieser gedehnte Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit endet mit einer wirksamen Nachprüfungsmitteilung des Versicherers 23 , dem Tod des Versicherten oder einer Verzichtserklärung des VN. Das stellt nicht nur im allgemeinen Schuldrecht, sondern auch im Versicherungsrecht eine ungewöhnliche Besonderheit dar.
Die durch den Eintritt des Versicherungsfalls einmal bestehende „gedehnte“ Leistungspflicht des Versicherers gilt daher im Normalfall für die gesamte Dauer der Berufsunfähigkeit bis zum Ablauf der vereinbarten Leistungsdauer, solange der Versicherer nicht das Nachprüfungsverfahren erfolgreich durchführt. Die Leistungsdauer richtet sich ausschließlich nach der vertraglichen Vereinbarung und wird sogar durch eine nach Eintritt der Berufsunfähigkeit ausgesprochene Kündigung des Vertrags nicht beseitigt, wozu in vielen Versicherungsbedingungen geregelt ist, dass bei einer Kündigung der Versicherung anerkannte oder festgestellte Ansprüche unberührt bleiben. Das gilt in vergleichbarer Weise aber auch dann, wenn der Versicherungsfall vor dem Wirksamwerden der Kündigung zwar eingetreten, aber noch nicht endgültig anerkannt oder festgestellt war, weshalb die Prüfung der Leistungspflicht vom Versicherer ungeachtet einer Kündigung fortzusetzen ist.
Führt der Versicherer kein Nachprüfungsverfahren durch oder ist seine Einstellungsmitteilung formell fehlerhaft 24 oder kann er den Wegfall der Berufsunfähigkeit nicht beweisen, bleibt er auch dann leistungspflichtig, wenn die Berufsunfähigkeit tatsächlich entfallen sein sollte, da die Leistungseinstellung immer nur in Zukunft wirkt (vgl. § 174 Abs. 2 VVG). Ohne eine formell und materiell wirksame Einstellungsmitteilung muss der Versicherer also bis zum Ende der vereinbarten Leistungsdauer leisten. Allein das Absinken der Berufsunfähigkeit unter den vereinbarten Grad der Berufsunfähigkeit (in der Regel 50 %) führt in keinem Fall zum Entfall des Anspruchs. Eine bloße Neubeurteilung oder „Neubemessung“ des Grades der Berufsunfähigkeit mit der Folge eines Wegfalls der Leistungspflicht ist dem Versicherer außerhalb des Nachprüfungsverfahrens mit seinen strengen Formalitäten nicht gestattet.
Diese „Zementierung“ der Leistungspflicht einerseits durch den Eintritt des Versicherungsfalls (verkörpert im Anerkenntnis des Versicherers) und andererseits durch das Erfordernis eines erfolgreichen Nachprüfungsverfahrens bedingt, dass es sich nicht um eine „normale“ abschnittsweise immer wieder neu entstehende Leistungspflicht handelt, sodass auch keine entsprechende verjährungsauslösen Fälligkeit bestehen kann. Maßgeblich sind ausschließlich die beiden „Eckpfeiler“, d. h. der Eintritt des Versicherungsfalls auf der einen und die Leistungseinstellung im Nachprüfungsverfahren auf der anderen Seite. Was „dazwischen“ geschieht, ist jedenfalls in Bezug auf die Leistungspflicht und die Fälligkeit des Gesamtanspruchs grundsätzlich ohne Belang.
Weitere Besonderheiten liegen darin, dass den VN im Nachprüfungsverfahren durchaus außergewöhnliche Mitwirkungsobliegenheiten treffen, 25 die praktisch bewirken, dass der Gläubiger dem Schuldner bei dessen Beweisführung, wieder von einer anerkannten Leistungspflicht loszukommen, helfen soll. Nach Ansicht des BGH lässt sich dies „nur mit den Besonderheiten des Versicherungsrechts und der speziellen Ausgestaltung einer Berufsunfähigkeitsversicherung rechtfertigen“. 26 Mit dieser „speziellen Ausgestaltung“ sind die oben beschriebenen Besonderheiten des langfristig bindenden Anerkenntnisses und des Nachprüfungsverfahrens gemeint, die das OLG Jena nicht berücksichtigt hat. Das unterstreicht erneut, dass die in der Berufsunfähigkeitsversicherung gewählte „Konstruktion“ des gedehnten Versicherungsfalls nicht mit anderen Schuldverhältnissen vergleichbar ist.
Die vom Senat erwähnte Möglichkeit der abstrakten Verweisung als Besonderheit der Berufsunfähigkeitsversicherung ändert an alledem nichts. Zunächst einmal ist die abstrakte Verweisung schon lange nichts Typisches mehr für Berufsunfähigkeitsversicherungen, sondern in den meisten Verträgen seit ungefähr der Jahrtausendwende eher die Ausnahme gegenüber der Regel der konkreten Verweisung. 27 Beide Varianten setzen nach § 172 Abs. 3 VVG eine ausdrückliche Vereinbarung im Vertrag voraus. Die Verweisungsmöglichkeit – mag sie abstrakt oder konkret sein – hat entgegen OLG Jena auch nicht die Konsequenz, „dass das Bestehen eines Leistungsanspruchs ständig zu überprüfen ist“. Sie wird als Tatbestandsmerkmal der Berufsunfähigkeit in der Leistungsprüfung (Erstprüfung) vom Versicherer geprüft und kann im Nachprüfungsverfahren eine Rolle spielen, wenn der Versicherte einen neuen Beruf ergriffen oder umgeschult hat. Dann – und nur dann – wird sie wieder geprüft. Verweisungsmöglichkeiten, die der Versicherer bereits zum Zeitpunkt der Erstprüfung hatte, aber nicht umgesetzt hat, sind allerdings für das Nachprüfungsverfahren verloren. 28 Anders als es das OLG Jena sieht, ist auch nicht „unter Umständen Monat für Monat zu prüfen, ob bei bestehender Berufsunfähigkeit ein Zahlungsanspruch besteht“. Woraus sich dies ergeben soll, erschließt sich nicht. In der Praxis leiten Versicherer manchmal jahrelang kein Nachprüfungsverfahren ein, und manche Versicherungsbedingungen enthalten sogar „Frequenz-Beschränkungen“, nach denen nur ein Mal pro Jahr eine Nachprüfung erfolgen darf. Ein „Monat für Monat“ neu eingeleitetes Nachprüfungsverfahren ist nicht nur lebensfremd, es wäre auch selbst dann eine schlichte Schikane i. S. v. § 226 BGB, wenn die Bedingungen keine Limitierung vorsähen.
VI. Zur Abschaffung von § 12 Abs. 3 VVG a. F.
Falsch ist auch das Argument des OLG, die Annahme der Verjährung eines Gesamtanspruchs würde das vom Gesetzgeber mit der Streichung des § 12 Abs. 3 VVG verfolgte Ziel der Verbesserung der Position des VN konterkarieren. 29 Zwar heißt es tatsächlich in der Gesetzesbegründung zum VVG 2008, dass das Interesse des Versicherers, möglichst bald Klarheit über eine Geltendmachung von abgelehnten Ansprüchen zu bekommen, die Sonderregelung des § 12 Abs. 3 VVG nicht mehr rechtfertigt, weil dies dem Versicherer die Möglichkeit gibt, die Verjährungsfrist zulasten des Vertragspartners einseitig zu verkürzen. 30 Die Gesetzesbegründung führt aber ebenfalls aus, dass für Versicherungsverträge keine schutzwürdigen Interessen der Vertragspartner ersichtlich sind, die eine Abweichung von der Regelfrist des § 195 BGB weiterhin erforderlich machen würden. Hier werden also zunächst einmal die Interessen beider Vertragspartner erwähnt, und für diese wird einheitlich auf die Regelverjährung im BGB abgestellt. Diese dient aber weder dem einen noch dem anderen Vertragspartner, sondern bezweckt – kurz gesagt – innerhalb angemessener Fristen für Rechtssicherheit und Rechtsfrieden für alle Vertragsparteien zu sorgen. Der Reformgesetzgeber hatte deshalb ausschließlich im Blick, die Privilegierung des Versicherers durch § 12 Abs. 3 VVG a. F. zu beseitigen, um dadurch einen „Gleichstand“ zu erreichen. Das mag man sprachlich auch in ein „Ziel der Verbesserung der Position des VN“ ummünzen können, der Schwerpunkt lag für den Reformgesetzgeber aber dennoch schlicht darin, den VN und den Versicherer gerade im Hinblick auf die Verjährung gleichzustellen – nicht mehr und nicht weniger. Die Meinung des OLG, mit dem Wegfall des § 12 Abs. 3 VVG a. F. sei daher der normative Anknüpfungspunkt für die Idee eines „Gesamtanspruchs“, die der BGH-Entscheidung aus dem Jahr 1955 zugrunde lag, entfallen, basiert daher auf einer übersteigerten Interpretation der Zielrichtung des Gesetzgebers. Vielmehr bewirkt gerade eine Verjährung des Stammrechts die vom Reformgesetzgeber mit der Streichung von § 12 Abs. 3 VVG a. F. bezweckte „Gleichstellung“, weil für beide Seiten klar ist, wann und wie lange sämtliche Ansprüche geltend gemacht werden können. Diese enstpricht auch dem allgemeinen Zweck der Verjährungsregelungen, in einem überschaubaren Zeitraum für Rechtssicherheit und Rechtsfrieden zu sorgen.
VII. Ergänzende Gesichtspunkte
Obwohl es hier nicht um die Auslegung von Versicherungsbedingungen geht, sei trotzdem kurz der dort nach der BGH-Rechtsprechung relevante durchschnittliche VN angesprochen: Da dieser aufgrund des ihm zuzumutenden Studiums der Versicherungsbedingungen weiß, dass er (nur) ein einziges Mal nachweisen muss, dass bei ihm Berufsunfähigkeit eingetreten ist, um dann so lange Leistungen zu bekommen, wie er auch berufsunfähig bleibt und der Versicherer keine wirksame Nachprüfung durchführt, liegt auch sein Rückschluss nahe, dass sein „kompletter“ Anspruch aus diesem einen Versicherungsfall nach einer gewissen Zeit untergeht, wenn der Versicherer ablehnt. Er wird nicht davon ausgehen, dass er jeden Monat „wieder neu“ berufsunfähig werden muss, sondern vielmehr annehmen, dass er berufsunfähig bleiben muss, um weiter Leistungen zu erhalten. Dieses „Bleibenmüssen“ beinhaltet eine Verknüpfung mit dem Eintritt des Versicherungsfalls im Sinne des Stammrechts, denn davon „stammt“ alles Weitere ab.
VIII. Fazit
Die Entscheidung des OLG zeigt zunächst einmal sehr schön, dass die Rechtswissenschaft keine absolute Wissenschaft wie Mathematik oder Physik ist und auch vermeintlich klare Rechtstandpunkte aufgrund einer anderen Auslegung der dafür geltenden Grundsätze infrage gestellt werden können. Vor diesem Hintergrund ist es im Sinne einer lebendigen und kritischen Rechtswissenschaft auch begrüßenswert, dass der Senat den „Knackpunkt“ des Falls kritisch hinterfragt und nicht gebetsmühlenartig auf eine „einheitliche Meinung“ oder „BGH“ verwiesen hat, denn ein solcher (bloßer) Verweis ersetzt nicht die erforderliche eigene gedankliche Arbeit und anschließende Würdigung des Gerichts. Richtig ist die Meinung des OLG Jena aus den zuvor dargelegten Gründen aber dennoch nicht, denn trotz der im Urteil angesprochenen „Besonderheiten der Berufsunfähigkeitsversicherung“ sind genau diese verkannt worden. Es ist zu wünschen, dass der BGH Gelegenheit erhält, die Fehleinschätzungen zu korrigieren.
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1 Zur Herleitung des Begriffs sehr ausführlich OLG Stuttgart VersR 2014, 1115 = juris Rn. 47 ff.
2 BGH VersR 2006, 102 zu § 12 Abs. 3 VVG a. F.; OLG Saarbrücken VersR 2018, 725; OLG Hamm VersR 2015, 705 (PKH); OLG Stuttgart VersR 2014, 1115; OLG Koblenz VersR 2011, 1294; LG Stuttgart vom 9. 10. 2013 – 18 O 188/13.
3 Neuhaus, Berufsunfähigkeitsversicherung 3. Aufl. 2014 E Rn. 212; Dörner in Langheid/Wandt, Münch. Komm. zum VVG 2. Auf. 2016 § 172 Rn. 240; Rixecker in Langheid/Rixecker, VVG 5. Aufl. 2015; Armbrüster in Prölss/Martin, VVG 30. Aufl. 2018 § 15 Rn. 3; Mertens in Rüffer/Halbach/Schimikowski, VVG 3. Aufl. 2015 § 173 Rn. 11; Rixecker in Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch 3. Aufl. 2015 § 46 Rn. 245; Neuhaus in Schwintowski/Brömmelmeyer, Praxiskomm. zum Versicherungsvertragsrecht 3. Aufl. 2017 § 172 Rn. 24.
4 Ausführlich zur Fälligkeit des Anspruchs Neuhaus, Berufsunfähigkeitsversicherung 3. Aufl. 2014 E Rn. 179 ff. sowie Rn. 212 ff. zum entsprechenden Beginn der Verjährungsfrist.
5 OLG Stuttgart VersR 2014, 1115 = juris Rn. 46 m. w. N. aus der Literatur.
6 BGH VersR 1955, 97.
7 BGH VersR 1978, 313; VersR 2006, 102 zu § 12 Abs. 3 VVG a. F.
8 OLG Stuttgart VersR 2014, 1115.
9 OLG Hamm VersR 2015, 705.
10 Ausführlich zur fälligkeitsauslösenden Ablehnung des Versicherers Neuhaus, Berufsunfähigkeitsversicherung 3. Aufl. 2014 E Rn. 192 ff.
11 OLG Hamm VersR 2015, 705.
12 OLG Jena VersR 2018, 723.
13 Verweis auf OLG Koblenz VersR 2011, 1294; OLG Stuttgart VersR 2014, 1115; OLG Hamm VersR 2015, 705; OLG Saarbrücken VersR 2018, 725.
14 Verweis auf Peters/Jacoby in Staudinger, BGB Bearb. 2014 § 194 Rn. 16.
15 BGH VersR 1955, 97.
16 Verweis auf Begründung des Gesetzesentwurfes der Bundesregierung BT-Drucks. 16/3945 S. 64.
17 Für gewerbliche Mietverhältnisse gilt dies grundsätzlich entsprechend, vgl. Neuhaus, Handbuch der Geschäftsraummiete 6. Aufl. 2017 Kap. 9 Rn. 171.
18 BGH vom 17. 2. 2010 – VIII ZR 104/09 – NJW 2010, 1292; KG vom 23. 2. 2015 – 8 U 52/14 – MDR 2015, 581; Eisenschmid in Schmidt-Futterer, Mietrecht 13. Aufl. 2017 § 536 BGB Rn. 302.
19 KG vom 23. 2. 2015 – 8 U 52/14 – MDR 2015, 581.
20 Ausführlich dazu Neuhaus, Berufsunfähigkeitsversicherung 3. Aufl. 2014 L Rn. 14.
21 BGH VersR 2017, 216 = jurisPR-VersR 2/2017 Anm. 3 Neuhaus; VersR 2010, 1025 Rn. 10; OLG Karlsruhe VersR 2016, 839; OLG Nürnberg VersR 2012, 50; OLG Frankfurt/M. vom 4. 12. 2002 – 7 U 113/99 – zfs 2003, 460; OLG Köln VersR 1996, 224.
22 BGH VersR 2013, 1042; BGHZ 107, 170 (173) = VersR 1989, 588; VersR 1984, 630 unter III; VersR 1981, 875; VersR 1957, 781 unter I.
23 BGH VersR 2017, 216 = jurisPR-VersR 2/2017 Anm. 3 Neuhaus.
24 Ausführlich dazu Neuhaus, Berufsunfähigkeitsversicherung 3. Aufl. 2014 M Rn. 63 ff.
25 So Neuhaus MDR 2013, 1201.
26 BGH VersR 1993, 470.
27 Zu den Unterschieden Neuhaus in Schwintowski/Brömmelmeyer, Praxiskomm. zum Versicherungsvertragsrecht 3. Aufl. 2017 § 172 Rn. 89.
28 Sogenanntes Verbot des Nachschiebens, vgl. Neuhaus, Berufsunfähigkeitsversicherung 3. Aufl. 2014 M Rn. 20 ff. m. w. N.
29 Vgl. Neuhaus, Berufsunfähigkeitsversicherung 3. Aufl. 2014 M Rn. 31.
30 BT-Drucks. 16/3945 S. 64.
31 Quelle: Kai-Jochen Neuhaus, Dortmund: Die Verjährung von Ansprüchen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung – VersR 2018, 711. Der Autor ist Fachanwalt für Versicherungsrecht und Fachanwalt für Mietrecht.