29 Jul Der Regress des Sozialleistungsträgers nach einem Unfall
Nach wie vor gilt: Beim Regress von Sozialleistungs- bzw. versicherungsträgern (nachfolgend nur Sozialleistungsträger) sind zwei verschiedene sich ausschließende „Haftungssysteme“ zu unterscheiden.
Zum einen können Sozialleistungsträger auf sie nach § 116 I 1 SGB X bzw. § 119 I 1 SGB X übergegangene Ansprüche des Geschädigten, ihres Versicherten, geltend machen. Sie verfolgen dann kraft des gesetzlichen Forderungsübergangs die zu ihren Leistungen kongruenten Schadenersatzansprüche ihres Versicherten, der für die Geltendmachung dieser Ansprüche nicht mehr aktivlegitimiert ist. Übergangsfähig sind damit insbesondere Ansprüche aus Gefährdungshaftung und nach §§ 823 BGB ff., aber auch vertragliche Schadenersatzansprüche. Ausreichend ist damit für die erfolgreiche Durchsetzung des Anspruchs z. B. bereits einfache Fahrlässigkeit. Soweit ein Anspruchsübergang auf den Sozialleistungsträger nicht stattgefunden hat, kann der Geschädigte die bei ihm verbliebenen Ansprüche selbst gegen den Schädiger verfolgen.
Liegt hingegen ein Arbeitsunfall des Versicherten vor, dann ist zu prüfen, ob der für diesen Unfall verantwortliche Schädiger nach den §§ 104 ff. SGB VII haftungsprivilegiert ist. Liegt ein solches Haftungsprivileg vor, findet ein Anspruchsübergang auf den Sozialleistungsträger nicht statt. Die Sozialleistungsträger haben bei einem Arbeitsunfall vielmehr einen originären Regressanspruch gem. § 110 I SGB VII gegen den Schädiger, der aber nur dann gegeben ist, wenn der Schädiger den Arbeitsunfall vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt hat. Einfache Fahrlässigkeit oder gar eine Gefährdungshaftung reichen für den Regress nach § 110 I SGB VII nicht aus. § 110 I SGB VII ist eine alleinige und ausschließliche Anspruchsgrundlage für den Sozialleistungsträger, während § 116 I 1 SGB X keine Anspruchsgrundlage, sondern einen gesetzlichen Anspruchsübergang darstellt, sich die Frage der Haftpflicht des Schädigers also nach allgemeinen haftungsrechtlichen Vorschriften beurteilt.
Leider hat sich diese Unterscheidung insbesondere bei mit dieser Materie befassten Instanzgerichten immer noch nicht hinreichend deutlich durchgesetzt. So sprechen die Gerichte auch bei nach § 110 SGB VII geltend gemachten Ansprüche gerne davon, dass der Sozialleistungsträger auf ihn „übergegangene Ansprüche“ geltend mache. Dies aber ist nicht nur die falsche Wortwahl, sondern könnte auch zur falschen Rechtsanwendung führen. Dies sei an folgendem Beispiel verdeutlicht:
Den Sozialleistungsträgern entstehen bei der Durchführung ihrer Aufgaben Verwaltungskosten. So ist die Anfertigung ärztlicher Berichte, die z. B. für die Rentenfeststellung benötigt werden, durch den Sozialleistungsträger zu bezahlen. Wenn der Sozialleistungsträger diese Aufwendungen dann gegen den Schädiger verfolgt, wird häufig eingewandt, diese Ansprüche könnten nicht geltend gemacht werden, weil diese Ansprüche nicht zu den Schadenersatzansprüchen des Geschädigten kongruent sind, d. h. sie könnten nicht als übergangsfähige Ansprüche verfolgt werden.
Dieser Einwand ist aber nur dann richtig, wenn der Sozialleistungsträger tatsächlich auf ihn nach § 116 SGB X übergegangene Ansprüche verfolgt. In diesem Fall könnten diese Verwaltungskosten mangels Kongruenz3, zu den Schadenersatzansprüchen des Geschädigten in der Tat nicht geltend gemacht werden.
Anders sieht es hingegen aus, wenn der Sozialleistungsträger den Aufwendungsersatzanspruch des § 110 SGB VII verfolgt. Hier geht es nicht darum, dass der Sozialleistungsträger auf ihn übergegangene Ansprüche verfolgt, sondern darum, dass er einen Aufwendungsersatzanspruch geltend macht. Es handelt sich hier um einen originären Anspruch des Sozialleistungsträgers4, der mit einem Anspruchsübergang von Ansprüchen des Geschädigten auf den Sozialleistungsträger nichts zu tun hat. Dies folgt bereits daraus, dass der Aufwendungsersatzanspruch des § 110 SGB VII überhaupt nur dann eingreift, wenn der Schädiger nach den §§ 104 ff. SGB VII haftungsprivilegiert ist. Diese Haftungsprivilegien aber schließen einen Anspruchsübergang gerade aus.
Eine Begrenzung erfährt der Anspruch nach § 110 SGB VII allerdings durch die Höhe des zivilrechtlichen Schadens, den der Geschädigte selbst geltend machen könnte, stünden dieser unmittelbaren Geltendmachung nicht die Haftungsprivilegien der §§ 104 ff. SGB VII entgegen. Dies führt allerdings ebenfalls nicht dazu, dass der Sozialleistungsträger im Rahmen des § 110 SGB VII nur zu seinen Aufwendungen kongruente Ansprüche des Geschädigten geltend machen kann. Dies wird deutlich aus der Entscheidung des BGH VI ZR 143/05, in welcher der BGH klargestellt hat, dass zur Feststellung der Höhe des zivilrechtlichen Schadens sowohl die materiellen, aber auch die immateriellen Ansprüche des Geschädigten zu berücksichtigen sind.5 Leistungen des Sozialleistungsträgers die zum Schmerzensgeld des Geschädigten kongruent sind, gibt es aber nicht.
Daher kann der Sozialleistungsträger bei der Geltendmachung seines originären Aufwendungsersatzanspruchs nach § 110 SGB VII alle ihm entstandene Aufwendungen6 in Höhe des Betrages verlangen, der dem zivilrechtlichen Schaden des Geschädigten entspricht, den dieser gegen den Schädiger geltend machen könnte, wäre dieser dem Geschädigten gegenüber nicht nach §§ 104, 105 SGB VII haftungsprivilegiert. Übersteigt dieser zivilrechtliche Schaden die Aufwendungen des Sozialleistungsträgers oder besteht er mindestens in gleicher Höhe, so können die Aufwendungen in voller Höhe geltend gemacht werden. Bleibt der Betrag des zivilrechtlichen Schadens hinter den Aufwendungen des Sozialleistungsträgers zurück, so können die Aufwendungen nur in Höhe des Betrages geltend gemacht werden, der der Höhe des zivilrechtlichen Schadens entspricht.
Dies bedeutet, dass bei dem originären Aufwendungsersatzanspruch des § 110 SGB VII unabhängig von der Übergangsfähigkeit der Positionen des zivilrechtlichen Schadensschlicht die Höhe der Aufwendungen der Höhe des zivilrechtlichen Schadens gegenüberzustellen ist. Der geringere Betrag der beiden Positionen entspricht der Höhe des Aufwendungsersatzanspruchs des Sozialleistungsträgers nach § 110 SGB VII.
Bezogen auf das eingangs gewählte Beispiel der Verwaltungskosten bedeutet dies für den Anspruch nach § 110 SGB VII, wie das OLG Rostock7 zutreffend ausgeführt hat:
„Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes umfasst der Schadensersatzanspruch, der die Begrenzung des Aufwendungsersatzanspruches gem. § 110 SGB VII darstellt, auch den insoweit fiktiven zivilrechtlichen Schmerzensgeldanspruch. Dabei kommt es im Gegensatz zu der Vorschrift des § 116 SGB X, die den Rechtsübergang regelt, auf eine Kongruenz der erbrachten Leistungen zu einem zivilrechtlichen Ersatzanspruch nicht an, da § 110 SGB VII seiner Rechtsnatur nach einen originären Aufwendungsersatzanspruch des Sozialversicherungsträgers darstellt und eine Begrenzung nur der Höhe nach, also im Hinblick auf das Gesamtvolumen erfolgt, ohne dass eine Kongruenz der erbrachten Leistungen erforderlich ist. (…) Die beiden Schadenspositionen, bei denen sich die Frage einer Ersatzfähigkeit i. S. eines Schadensersatzanspruches stellt, d. h. die Verwaltungskosten mit unstreitig 3.288,42 EUR und Verletztenrente bis zum 31.05.2005 mit 19.288,36 EUR (gesamt: 22.576,78 EUR) sind im Hinblick auf die Höhe des fiktiven Schmerzensgeldanspruches von diesem abgedeckt.“ Damit hat das OLG Rostock dem Sozialleistungsträger auch die Verwaltungskosten als Aufwendungsersatz im Rahmen des Anspruchs nach § 110 SGB VII zugesprochen, da diese Aufwendungen durch die Höhe des zivilrechtlichen Schadens abgedeckt sind und bei der Geltendmachung des Anspruchs nach § 110 SGB VII eben kein übergangener Anspruch verfolgt wird.
I. Der Regress des Sozialleistungsträgers aus nach § 116 I 1 SGB X übergegangenem Recht
Soweit und sobald ein Anspruchsübergang auf den für den Unfall zuständigen Sozialleistungsträger stattgefunden hat, ist der Verletzte selbst für die Durchsetzung der auf den Sozialleistungsträger übergegangenen Ansprüche nicht mehr aktivlegitimiert. Seine Klage wäre unbegründet. Umgekehrt gilt, dass der Geschädigte alle Schadenersatzansprüche oder entstandenen Schäden weiter selber geltend machen kann, die nicht vom Anspruchsübergang umfasst sind.
1.) Der Anspruchsübergang nach § 116 SGB X unter Berücksichtigung des Abfindungsvergleichs des Geschädigten
Die Ansprüche des Geschädigten gehen gem. § 116 I 1 SGB X bereits mit ihrer Entstehung, also zum Zeitpunkt des Unfalls auf Renten-, Unfall-, und Krankenversicherungsträger über und nicht erst – anders als im privaten Versicherungsrecht gem. § 86 VVG – wenn die vom Versicherer geschuldeten Leistungen gewährt werden. Beim Anspruchsübergang nach § 116 I 1 SGB X ist die bloße Möglichkeit der Inanspruchnahme für den Anspruchsübergang ausreichend.8
Die Bestimmung des Zeitpunkts des Anspruchsübergangs ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil der Geschädigte ab diesem Zeitpunkt nicht mehr in der Lage ist, über die auf den Sozialleistungsträger übergegangenen Ansprüche wirksam zu verfügen. Er kann insbesondere über diese Ansprüche keinen wirksamen Abfindungsvergleich mehr schließen. Gleichwohl geschlossene Abfindungsvergleiche sind für den Sozialleistungsträger regelmäßig unbeachtlich, sofern nicht die Voraussetzungen der §§ 412, 407 BGB vorliegen.9
Hinsichtlich des Regresses des Sozialhilfeträgers ist bezüglich des Zeitpunkts des Anspruchsübergangs aber eine Ausnahme dahin gehend zu beachten, dass der Anspruchsübergang erst dann stattfindet, wenn mit der Sozialhilfebedürftigkeit des Geschädigten und damit mit der Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers ernsthaft zu rechnen ist.10 Dieser Zeitpunkt kann mit dem Zeitpunkt des Unfalls identisch sein, muss es aber nicht.11
Ein späterer Anspruchsübergang als zum Zeitpunkt des Unfalls tritt auch dann ein, wenn das Sozialversicherungsverhältnis erst nach dem Unfall entsteht, dann kommt es auch erst in diesem Zeitpunkt zum Anspruchsübergang.12
Diese Fälle sind jedoch nicht mit dem Wechsel der gesetzlichen Krankenkasse nach einem Unfall zu verwechseln. Ist der Versicherte zum Unfallzeitpunkt Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse, dann kommt es zum Unfallzeitpunkt zum Anspruchsübergang auf die zu diesem Zeitpunkt zuständige gesetzliche Krankenkasse. Wechselt der Versicherte später in eine andere gesetzliche Krankenkasse, so ist diese Rechtsnachfolgerin der ersten Kasse, so dass sie die Ansprüche so erwirbt, wie sie der ersten Kasse bis zum Wechsel zustanden.13
Wechselt der Geschädigte nach dem Unfall hingegen aus der gesetzlichen Krankenversicherung in die private Krankenversicherung, so kann dies auch dann zu einem Wiederaufleben eines Regressanspruchs – diesmal des privaten Krankenversicherers führen – wenn sich sowohl der Geschädigte, als auch die gesetzliche Krankenversicherung bereits durch einen Abfindungsvergleich mit dem Schädiger vermeintlich abschließend geeinigt haben.
Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen ist der Umstand, dass die Schadenersatzansprüche des Geschädigten im Zeitpunkt des Unfalls nur auflösend bedingt gem. § 116 SGB X auf den Sozialleistungsträger übergehen. Sie fallen, soweit eine zeitlich und sachlich kongruente Leistungspflicht des Sozialleistungsträgers nicht mehr besteht, gem. § 158 II BGB wieder an den Geschädigten zurück, ohne dass es einer besonderen Rückübertragung bedarf.14
Unter Berücksichtigung des § 161 BGB kann dies zu überraschenden Ergebnissen führen, selbst wenn Haftpflichtversicherer des Geschädigten und Sozialleistungsträger der Meinung waren, den Schadenfall schon längst durch eine Abfindungserklärung erledigt zu haben. Dies sei an Hand der Entscheidung des BGH vom 08.12.199815 verdeutlicht.
Im Rahmen dieser Entscheidung hatte der BGH einen Sachverhalt zu beurteilen, bei dem ein zum Schadenzeitpunkt 11 jähriges Kind im Rahmen eines Verkehrsunfalls verletzt worden war. Zu diesem Zeitpunkt bestand eine Versicherung bei einer gesetzlichen Krankenkasse, so dass insoweit unproblematisch der Anspruchsübergang nach § 116 SGB X auf diese Kasse zum Unfallzeitpunkt stattgefunden hatte.
Der Vater des Kindes schloss nachfolgend mit dem Haftpflichtversicherer des Schädigers einen Abfindungsvergleich, von dem allerdings die materiellen Zukunftsansprüche ausgenommen waren.
Bezogen auf die gesetzliche Krankenkasse, die ihre Aufwendungen beim Schädiger fortlaufend zunächst regressiert hatte, kam es später zu einem Wechsel zu einer anderen gesetzlichen Krankenkasse. Diese schloss zu einem späteren Zeitpunkt ebenfalls einen Abfindungsvergleich. Nach einem weiteren Wechsel im Bereich der gesetzlichen Krankenkasse, wechselte der Geschädigte dann zu einer privaten Krankenversicherung und akzeptierte einen Risikoausschluss wegen der Unfallfolgen. Da er nunmehr selbst für die weiteren Heilbehandlungskosten aufkommen musste, begehrte er deren Ersatzpflicht von der Haftpflichtversicherung des Schädigers.
Die Haftpflichtversicherung des Schädigers berief sich zunächst auf den Abfindungsvergleich, den diese mit der gesetzlichen Krankenversicherung geschlossen hatte. Dieser Abfindungsvergleich war jedoch im Verhältnis zum Geschädigten nach § 161 BGB unwirksam. Die gesetzliche Krankenkasse konnte während der Schwebezeit des Anspruchsübergang wirksam nur insoweit über die Regressansprüche verfügen, als dadurch die Rechte des nachberechtigten Geschädigten nicht vereitelt oder beeinträchtigt wurden (§ 161 II BGB). Diese Vorschrift schützt denjenigen, der bei Eintritt der auflösenden Bedingung das Recht zurückerwirbt. Der in dem Abfindungsvergleich liegende Erlass, bei dem es sich um eine Verfügung i. S. des § 161 BGB handelt, hatte daher zur Folge, dass er gegenüber dem Geschädigten unwirksam war und deshalb einem Rückfall der Rechte auf den Geschädigten bei dessen Austritt aus der gesetzlichen Krankenkasse nicht entgegenstand.16
Damit konnte sich die Haftpflichtversicherung des Schädigers gegenüber dem Geschädigten auf den mit der gesetzlichen Krankenversicherung geschlossenen Abfindungsvergleich nicht berufen, da dieser im Verhältnis zum Geschädigten unwirksam war.
Auch der seinerzeit mit dem Geschädigten geschlossene Abfindungsvergleich entfaltete keine Wirkung, da die auf die Krankenkasse übergegangenen Ansprüche nicht Gegenstand dieses Vergleichs sein konnten, weil diese zum Zeitpunkt des Vergleichsschlusses zwischen dem Schädiger und dem Geschädigten schon auf die Krankenkasse übergegangen und damit einem Direktvergleich gar nicht zugänglich waren. Im Übrigen waren in diesem Vergleich die materiellen Zukunftsansprüche ohnehin ausgeschlossen,17 worauf es jedoch auf Grund des Anspruchsübergangs letztlich überhaupt nicht ankommt. Entsprechend handelt es sich bei diesem Gedanken auch nur um eine letztlich überflüssige Hilfserwägung des BGH in seiner hier dargestellten Entscheidung. Entscheidend ist, worauf auch der BGH abstellt, dass der Direktvergleich zwischen Schädiger und Geschädigtem diese Ansprüche auf Grund des zum Unfallzeitpunkt nach § 116 SGB X eingetretenen Anspruchsübergangs gar nicht erfasst haben konnte!
Allerdings waren die im Streitfall geltend gemachten Ansprüche verjährt. Die Verjährung der zunächst nach § 116 SGB X auf den Sozialversicherungsträger übergegangenen Anspruch begann mit der Kenntnis des am Unfalltage zuständigen Sozialversicherungsträgers vom Schaden und von der Person des Schädigers zu laufen. Durch die erfolgten Zahlungen war die Verjährungsfrist jeweils unterbrochen. Nach der Abgabe der Abfindungserklärung erfolgten jedoch naturgemäß keine Zahlungen mehr, so dass die Ansprüche trotz relativer Unwirksamkeit des Abfindungsvergleichs zu Gunsten des Geschädigten verjährten. Der Geschädigte erwirbt den Anspruch bei Bedingungseintritt nämlich nur in dem Zustand zurück, wie ihn der Rechtsvorgänger zuvor innehatte, ebenso wie auch der Sozialversicherungsträger einen bis zum Anspruchsübergang erfolgten Ablauf der Verjährungsfrist gegen sich gelten lassen muss.18
Sofern man seitens der Schädiger bzw. deren Haftpflichtversicherer aber nicht auf die Verjährung etwaiger Ansprüche vertrauen möchte, muss daher in einem Abfindungsvergleich der Fall der nach § 158 II BGB auf den Geschädigten zurückfallenden Ansprüche ausdrücklich geregelt und auch die Geltendmachung dieser Ansprüche explizit ausgeschlossen werden. Umgekehrt gilt für den Geschädigten, der sich beim Wechsel in eine private Krankenversicherung die Regressmöglichkeiten offen halten will, dass er der Verjährung der auf ihn nach § 158 II BGB zurückfallenden Ansprüche durch eine entsprechende Verjährungsverzichtserklärung vorbeugt. Die im Streitfall lediglich vereinbarte Ausnahme der materiellen Ansprüche vom Abfindungsvergleich reicht dazu nicht aus, da dies die Verjährung nicht dauerhaft hemmt.19
Ebenfalls zu einem späteren Zeitpunkt als dem Unfallzeitpunkt kommt es zum Anspruchsübergang, wenn sich aufgrund gesetzlicher Neuregelungen neu zu gewährende Sozialleistungen ergeben. In diesen Fällen kommt es erst dann zum Anspruchsübergang, wenn sich die ernsthafte Möglichkeit ergibt, dass der Geschädigte auf diese Leistungen einen Anspruch haben wird, also frühestens mit dem In-Kraft-Treten des Gesetzes, welches die neuen Sozialleistungen gewährt.20 Dies gilt aber nur dann, wenn die Sozialleistung tatsächlich neuartig ist, also eine sog. „Systemänderung“ darstellt.21
Ist zunächst kein Anspruchsübergang erfolgt, sondern findet dieser nach den oben dargelegten Grundsätzen erst später statt, so kann der Geschädigte über seinen Anspruch auch und insbesondere im Rahmen eines Abfindungsvergleichs wirksam verfügen. Der Sozialleistungsträger muss den Schadenersatzanspruch dann so hinnehmen, wie er sich zum Zeitpunkt des Anspruchsübergangs darstellt, mit der Folge, dass der Anspruch durch den Abfindungsvergleich erfasst ist und dann nicht mehr geltend gemacht werden kann.
Dieser Umstand hat besondere Bedeutung in den oben dargestellten Fällen der Systemänderung. Wird eine Sozialleistung im Sinne einer Systemänderung eingeführt, so findet, wie oben dargestellt, der Anspruchsübergang nicht zum Zeitpunkt des Unfalls, sondern erst zum Zeitpunkt der Einführung der neuen Sozialleistung statt. In diesen Fällen konnte der Geschädigte also vor der Einführung der neuen Sozialleistung und damit vor der Systemänderung einen wirksamen Abfindungsvergleich über seine zu dieser neuen Sozialleistung kongruenten Schadenersatzansprüche schließen. Dieser Abfindungsvergleich kann dann dem regressierenden Sozialleistungsträger entgegengehalten werden.22
Stellt die Einführung der neuen Sozialleistung jedoch keine Systemänderung, sondern nur die Erhöhung oder Modifizierung schon bestehender Sozialleistungen dar, dann kommt es i. d. R. schon zum Anspruchsübergang zum Unfallzeitpunkt, so dass die zu den Leistungen des Sozialleistungsträgers kongruenten Schadenersatzansprüche des Geschädigten seiner Disposition und damit auch der Möglichkeit eines Abfindungsvergleichs zu Lasten des Sozialleistungsträgers entzogen sind.
Der Anspruchsübergang nach § 116 SGB X erfolgt ausschließlich auf den tatsächlich zuständigen Sozialleistungsträger. Erbringt ein anderer Sozialleistungsträger in der irrigen Annahme seiner Zuständigkeit Leistungen, so führt dies nicht zu einem Anspruchsübergang auf diesen Sozialleistungsträger. Regressberechtigt ist und bleibt ausschließlich der eigentlich leistungspflichtige Sozialleistungsträger.23
2.) Das Familienprivileg des § 116 SGB X
Der Regress des Sozialversicherungsträgers nach § 116 SGB X kann sich gegen jeden Schädiger richten. Um jedoch Familienangehörige, die zum Zeitpunkt des Schadenereignisses mit dem Geschädigten oder seinen Hinterbliebenen in häuslicher Gemeinschaft lebten oder mit dem Geschädigten oder einem Hinterbliebenen nach Eintritt des Schadenfalls die Ehe geschlossen haben und in häuslicher Gemeinschaft leben, von Regressansprüchen der Sozialversicherungsträger zu verschonen, begründet § 116 VI SGB X für diesen Personenkreis ein sog. Familienprivileg, da § 116 VI SGB X bestimmt, dass der Übergang der Schadenersatzansprüche des Geschädigten auf den Sozialversicherungsträger nicht stattfindet, wenn es sich bei dem Schädiger um einen der oben genannten Familienangehörigen handelt.
Der vorsätzlich handelnde Schädiger kann sich auf dieses Familienprivileg allerdings nicht berufen (§ 116 VI 1 SGB X). Der den Anspruchsübergang auslösende Vorsatz muss jedoch die Schadenfolgen umfassen, auf die der Sozialversicherungsträger Leistungen erbringt, wobei dieser Vorsatz nicht die genaue Vorstellung des in der medizinischen Wissenschaft beschriebenen Kausalverlaufs voraussetzt. Es genügt, dass der Schädiger die Gefährlichkeit seines Verletzungsverhaltens erkennt und die daraus resultierenden, auch in seiner allgemeinen Laiensicht nahe liegenden Verletzungsfolgen billigend in Kauf nimmt.24
Zu den Familienangehörigen i. S.d. § 116 VI SGB X zählen u. a.: Ehegatten, Kinder, Geschwister, Verwandte in auf- und absteigender Linie, Verschwägerte, Adoptiv- und Stiefkinder sowie Pflegekinder bei einer auf Dauer angelegten Pflegschaft sowie Lebenspartner eingetragener gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften, da nach § 11 I LPartG ein Lebenspartner i. S.d. Gesetzes als Familienangehöriger des anderen Lebenspartners gilt, soweit nicht ein anderes bestimmt ist.
Kein Familienangehöriger i. S.d. Familienprivilegs gem. § 116 VI SGBX ist der geschiedene Ehegatte25 Nichteheliche Lebensgemeinschaften fallen nach der insoweit geänderten Rechtsprechung des BGH nunmehr ebenfalls unter das Familienprivileg.26
Auf das Familienprivileg des § 116 VI SGB X kann sich nur der Schädiger berufen, der mit dem Geschädigten in häuslicher Gemeinschaft lebt, wobei diese Voraussetzung nach dem Wortlaut des § 116 VI 1 SGB X zum Zeitpunkt des Schadenereignisses vorliegen muss, um den Anspruchsübergang nach § 116 I SGBX auszuschließen.
Schließen Schädiger und Geschädigter nach Eintritt des Schadenfalls die Ehe und leben in häuslicher Gemeinschaft, so kann gem. § 116 VI 2 SGB X der Ersatzanspruch nicht (mehr) geltend gemacht werden. Daraus folgt nach Auffassung des BGH, dass sich in diesem Fall auch der Schädiger nachträglich auf das Familienprivileg berufen kann, der bereits rechtskräftig zum Schadenersatz an den Sozialversicherungsträger verurteilt worden ist.27 Soweit der Schädiger zuvor Schadenersatz an den Sozialversicherungsträger erbracht hat, sind ihm diese Leistungen zurückzuerstatten.28 Diese Pflicht zur Rückgewähr besteht jedoch nach Sinn und Zweck des Familienprivilegs nicht, wenn der SVT vollständig entschädigt worden ist, bevor die Voraussetzungen für die Anwendung des Familienprivilegs vorliegen.29
Analoge Anwendung findet § 116 VI SGB X auch dann, wenn Familienangehörige nach dem Unfall eine häusliche Gemeinschaft begründen, z. B. der Sohn seinen verletzten Vater in seinen Haushalt aufnimmt, um ihn besser pflegen zu können.30 Auch in dieser Situation entsteht eine schutzwürdige häusliche Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft, die nach der Ratio des § 116 VI SGB X von Schadenersatzforderungen des Sozialversicherungsträgers freizustellen ist.
Eine häusliche Gemeinschaft i. S.d. § 116 VI SGB X ist anzunehmen, wenn die Lebens- und Wirtschaftsführung auf Dauer in einem gemeinsamen Haushalt praktiziert wird, der Mittelpunkt des Lebens sich also in einem gemeinsam bewohnten Haus oder einer gemeinsamen Wohnung abspielt. Erforderlich ist über die gemeinsame Nutzung der Räume hinaus die Realisierung einer Gemeinschaft im familiären und wirtschaftlichen Sinne.31 Eine solche das Familienprivileg begründende häusliche Gemeinschaft kann auch bei einer vorübergehenden Trennung z. B. aus beruflichen Gründen oder bei einer Unterbringung in einer Heilstätte fortbestehen.32 Maßgeblich ist hier, ob die Eheleute diese räumliche Trennung auch mit einem Trennungswillen i. S.d. § 1567 BGB vollzogen haben oder die Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft trotz der räumlichen Trennung aufrechterhalten wollen. Fehlt es an einem Trennungswillen, so greift die Rechtfertigung des Familienprivilegs – Schutz des Familienfriedens und der gemeinsamen Haushaltskasse – auch in dieser Situation ein.
Leben die Eltern eines Kindes getrennt und lebt das Kind z. B. hauptsächlich bei seiner Mutter, zahlt aber der Vater regelmäßig den geschuldeten Unterhalt und praktiziert den verabredeten oder ihm eingeräumten regelmäßigen Umgang mit dem Kind, der auch ein Verweilen des Kindes in seinem Haushalt umfasst, so kann sich auch dieser Elternteil auf das Familienprivileg berufen.33 Dies gilt erst recht, wenn sie zwar familienrechtlich getrennt leben, aber aus finanziellen Gründen mit dem Kind weiterhin eine gemeinsame Wohnung bewohnen.34
Der Zweck des Familienprivilegs ist es, die häusliche Wirtschaftsgemeinschaft nicht zu belasten, da zu vermuten steht, dass andernfalls die Leistungen des Sozialversicherungsträgers nicht dazu verwandt werden würden, den Geschädigten zu unterstützen, sondern an den Sozialversicherungsträger zurückfließen würden, selbst wenn Schädiger und Geschädigter formal getrennte Personen sind. Ein weiterer Grund für die Schaffung des Familienprivilegs ist aber auch der Schutz des Familienfriedens; die in häuslicher Gemeinschaft lebende Familie soll nicht mit einem Streit über die Haftung des Schädigers zusätzlich belastet werden. Entsprechend greift das Familienprivileg daher im Grundsatz auch dann ein, wenn hinter dem Schädiger eine Haftpflichtversicherung steht, so dass sich der Schädiger auch in diesem Fall auf das Familienprivileg berufen kann und damit kein Forderungsübergang, auch nicht in Form eines etwaigen Direktanspruchs, auf den Sozialversicherungsträger stattfindet.35
Allerdings kann die Annahme des Familienprivilegs bei Bestehen eines Direktanspruchs, wie er regelmäßig gegen die Kfz-Haftpflichtversicherung besteht, zu Ergebnissen führen, die die Geltung des Familienprivilegs in diesen Fällen zweifelhaft erscheinen lassen, da es Fallkonstellationen gibt, die dazu führen, dass der Geschädigte doppelt entschädigt wird, da auf Grund des Familienprivilegs ein Anspruchsübergang auf den Sozialleistungsträger nicht stattfindet, wie sich anlässlich eines vom BGH36 entschiedenen Falls zeigt.
In dem vom BGH entschiedenen Fall hatte ein Kind anlässlich des von seiner Mutter verursachten Verkehrsunfalls schwere Verletzungen erlitten, die zu einer Pflegebedürftigkeit und damit zu Leistungen der Pflegekasse führten. Der Regress der Pflegekasse gegen die Mutter bzw. die Haftpflichtversicherung ging wegen des Familienprivilegs ins Leere.
Die Besonderheit dieser Fallkonstellation besteht nunmehr darin, dass sich die Haftpflichtversicherung gegenüber dem geschädigten Kind nicht auf ein Familienprivileg berufen kann, was dazu führt, dass das geschädigte Kind die Haftpflichtversicherung auch auf die Leistungen in Anspruch nehmen kann, die es von der Pflegeversicherung schon erhalten hatte. Wegen des bereits zum Unfallzeitpunkt eingreifenden Familienprivilegs war kein Anspruchsübergang auf die Pflegekasse eingetreten, so dass das Kind für die Durchsetzung dieser Ansprüche weiter aktivlegitimiert war und damit Leistungen doppelt, nämlich von der Haftpflichtversicherung und von der Pflegekasse, erhielt. Auch ein Vorteilsausgleich wird in Anwendung des Rechtsgedankens des § 843 BGB abgelehnt, so dass das Familienprivileg in der oben dargestellten Fallkonstellation dazu führt, dass in diesen Fällen zugunsten des geschädigten Familienangehörigen doppelte Leistungen fließen.37
Sind gegenüber dem Geschädigten mehrere Schädiger für den Schaden verantwortlich, von denen sich ein Schädiger auf das Familienprivileg berufen kann, so handelt es sich um einen Fall der gestörten Gesamtschuld. Dies hat zur Folge, dass der Sozialversicherungsträger von dem nicht durch das Familienprivileg geschützten Schädiger nur den Teil des Schadens regressieren kann, der dessen Verantwortlichkeit im Innenverhältnis entspricht. Andernfalls würde das Familienprivileg über den Umweg des Gesamtschuldnerausgleichs im Innenverhältnis umgangen.38
Die Rechtsprechung des BGH erweitert den Anwendungsbereich des Familienprivilegs über die Vorschrift des § 116 VI SGB X hinaus. So wird das Familienprivileg auch auf den Anspruchsübergang nach §§ 5 OEG, 81 a I 1 BVG39 oder den Forderungsübergang nach § 76 BBG angewandt.40
II. Der Regress nach § 110 SGB VII unter besonderer Berücksichtigung des § 106 III SGB VII.
Wie bereits eingangs dargestellt, hat der Sozialleistungsträger die Möglichkeit den nach den §§ 104 ff. SGB VII haftungsprivilegierten Schädiger auf Ersatz der entstandenen Aufwendungen in Anspruch zu nehmen, wenn dieser den Schadenfall vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt hat. Da die grobe Fahrlässigkeit oder gar der Vorsatz des Schädigers eine hohe Hürde für den Ersatz dieser Aufwendungen darstellen, sind die Schädiger bzw. ihre Haftpflichtversicherer natürlich stets bemüht durch die Annahme von Haftungsprivilegien in den Anwendungsbereich dieser Vorschrift zu gelangen. Insbesondere im Bereich der Rechtsprechung zur gemeinsamen Betriebsstätte – dem Haftungsprivileg nach § 106 III 3. Alt. SGB VII – hat es jedoch einige Klarstellungen gegeben, die der zum Teil inflationären Anwendung dieses Haftungsprivilegs entgegen wirken. Diese sollen nachfolgend kurz dargestellt werden.
Um in den Anwendungsbereich des § 110 SGB VII zu gelangen, muss es sich bei dem Schadenfall zunächst um einen haftungsprivilegierten Arbeitsunfall handeln. Denn nur wenn ein Arbeitsunfall vorliegt, kann überhaupt die Annahme eines Haftungsprivilegs in Betracht kommen. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, daß es sich bei Arbeitsunfällen nicht nur um die klassischen Unfälle eines Arbeitnehmers in seinem Betrieb oder im Zusammenhang mit der Ausführung seiner Erwerbstätigkeit handelt. Arbeitsunfälle die Haftungsprivilegien gem. §§ 104 ff. SGB VII auslösen, liegen immer dann vor, wenn dieser Unfall eine nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII versicherte Person betrifft. Dies sind z. B. auch Lernende während der beruflichen Aus- und Fortbildung in Betriebsstätten, Lehrwerkstätten, Schulungskursen und ähnlichen Einrichtungen (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII), behinderte Menschen in anerkannten Werkstätten (§ 2 Abs. 1 Nr. 4 SGB VII), Landwirte und mitarbeitende Angehörige (§ 2 Abs. 1 Nr. 5 SGB VII), Kinder in Tageseinrichtungen, Schüler und Studenten (§ 2 Abs. 1 Nr. 8 SGB VII). Auch über die Figur des sog. „Wie Beschäftigten“ gem. § 2 II SGB VII können scheinbar alltägliche Vorgänge zu haftungsprivilegierten Arbeitsunfällen werden.41
Liegt ein Arbeitsunfall vor, dann ist das Vorliegen eines Haftungsprivilegs des Schädigers zu prüfen. Dabei können die Haftungsprivilegien der §§ 104 ff. SGB VII grob wie folgt unterteilt werden: Das Haftungsprivileg des § 104 SGB VII privilegiert den schädigenden Unternehmer der einen Mitarbeiter seines Unternehmens schädigt, das Haftungsprivileg des § 105 SGB VII privilegiert den schädigenden Kollegen, der einen in seinem Unternehmen tätigen Kollegen schädigt und das Haftungsprivileg der gemeinsame Betriebsstätte (§ 106 III SGB VII) privilegiert den Schädiger, der ohne im gleichen Unternehmen mit dem Geschädigten tätig zu sein, mit diesem auf einer gemeinsamen Betriebsstätte tätig ist.
Die Grundsätze für die Annahme einer gemeinsamen Betriebsstätte hatte der BGH zunächst mit Urt. v. 17.10.200042 festgelegt. Nach dieser Entscheidung umfasst der Begriff der gemeinsamen Betriebsstätte betriebliche Aktivitäten von Versicherten, die bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinander greifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen, wobei es ausreicht, dass die gegenseitige Verständigung stillschweigend durch bloßes Tun erfolgt. Dabei reicht das Bewusstsein einer ineinandergreifenden Tätigkeit auf Seiten des Geschädigten aus.43
Damit unterfallen sog. parallele Tätigkeiten nicht dem Haftungsprivileg des § 106 III SGB VII.44 Parallele Tätigkeiten werden immer dann ausgeübt, wen es sich um Tätigkeiten handelt, die nicht ineinander greifen und damit nur zufällig zur gleichen Zeit stattfinden. Um eine gemeinsame Betriebsstätte annehmen zu können, ist im Gegensatz zu diesen nicht haftungsprivilegierten parallelen Tätigkeiten also ein bewusstes tatsächliches Miteinander im Arbeitsablauf erforderlich, das vom Ansatz her mit einer betrieblichen Gemeinschaft vergleichbar ist.45
Kollidieren z. B. zwei zufällig zur gleichen Zeit auf einem Betriebsgelände anliefernde LKW verschiedener Firmen miteinander und werden die Fahrer verletzt, so greift die Haftungsprivilegierung nach § 106 III SGB VII nicht ein.46 Der Umstand, dass beide LKW-Fahrer nur auf dem Betriebsgelände eines dritten Unternehmens tätig sind und damit gemeinsam auch dessen geschäftlichem Interessen dienen, reicht als verbindendes Merkmal nicht aus, um eine gemeinsame Betriebsstätte anzunehmen.47 Schon gar nicht ausreichend wäre der Umstand, dass beide Fahrer auf demselben Gelände tätig sind.
Kein Haftungsprivileg nach § 106 SGB VII zu Gunsten des Schädigers besteht, wenn ein LKW-Fahrer Ware anliefert und die Plane des LKW öffnet, um das Abladen zu ermöglichen. Nimmt der LKW Fahrer am Vorgang des Abladens nicht teil, wird er aber gleichwohl durch den abladenden Gabelstapler verletzt, so greift eine Haftungsprivilegierung nicht ein, da die Tätigkeit des LKW-Fahrers mit der Anlieferung und Öffnung des LKW beendet war, da er seine Aufgabe, die Ware anzuliefern, erfüllt hatte.48 Auch das das bloße Bereitstellen der Ware zur Abholung begründet noch keine gemeinsame Betriebsstätte.49
Hintergrund dieser Rechtsprechung ist der Umstand, dass das Haftungsprivileg des § 106 III SGB VII nicht eingreift, wenn sich die Arbeitsanteile der bei verschiedenen Unternehmen beschäftigten Versicherten nur zufällig berühren.50
Wichtig ist, dass sich die Beurteilung der Frage, ob eine gemeinsame Betriebsstätte vorliegt, immer auf die konkrete Unfallsituation und den konkreten Unfallzeitpunkt beziehen muss. Nur in diesem Fall besteht ein auf die Unfallsituation bezogenes betriebliches Zusammenwirken, welches die für die Haftungsprivilegierung des § 106 SGB VII notwendige Gefahrengemeinschaft begründen kann.51 Es reicht damit nicht aus, wenn sich der Geschädigte z. B. auf dem Weg zu einer Arbeitsstelle befand, an welcher er später mit dem Schädiger zusammenarbeiten wollte und er bereits auf dem Weg dorthin durch den Schädiger geschädigt wurde, ohne dass zum Unfallzeitpunkt die gemeinsame ineinandergreifende Tätigkeit schon begonnen worden war.52
Hintergrund für diese Einschränkung ist der Umstand, dass das Haftungsprivileg des § 106 III SGB VII ausschließlich auf dem Gedanken der sog. Gefahrengemeinschaft beruht. Andere Gesichtspunkte, die in den Fällen der §§ 104, 105 SGB VII eine Rolle spielen, wie z. B. die Wahrung des Betriebsfriedens oder die Haftungsersetzung durch die an die Stelle des Schadenersatzes tretenden durch den Unternehmer finanzierten Leistungen der Unfallversicherung, rechtfertigen diesen Haftungsausschluss nicht.53 Dem Haftungsprivileg der gemeinsamen Betriebsstätte liegt vielmehr die Überlegung zu Grunde, dass die gemeinsam auf der Betriebsstätte Tätigen in einer so engen Beziehung zueinander arbeiten, dass sie gleichermaßen zum Schädiger oder Geschädigten werden können.54 Dies bedeutet, dass eine gleiche Wahrscheinlichkeit bestehen muss, dass sie als Geschädigte von den Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung profitieren, die das Haftungsprivileg rechtfertigen. Nur demjenigen, der als Schädiger von der Haftungsbeschränkung profitiert, kann es als Geschädigtem zugemutet werden, den Nachteil hinzunehmen, dass er selbst bei einer Verletzung keine Schadenersatzansprüche wegen seiner Personenschäden geltend machen kann.55 Fehlt diese Gefahrengemeinschaft, dann ist auch die Annahme des Haftungsprivilegs des § 106 III SGB VII nicht gerechtfertigt.
In diesem Sinne hat daher das OLG Stuttgart das Haftungsprivileg der gemeinsamen Betriebsstätte zu Gunsten eines Kraftfahrzeugführers verneint, der seinen Beifahrer durch die Verursachung eines Verkehrsunfalls geschädigt hat.56 Fahrer und Beifahrer eines PKW gefährden sich nicht typischerweise gegenseitig, sie kommen sich nicht „ablaufbedingt in die Quere“. Allein der Beifahrer ist dem nahe liegenden Risiko ausgesetzt, durch das Fahrverhalten des Fahrers zu Schaden zu kommen. Die Gefahr, dass der Beifahrer seinerseits dem Fahrer Schaden zufügen könnte, ist aufgrund des fehlenden Miteinanders im Arbeitsablauf rein theoretischer Natur. Es handelt sich damit nicht um Gefahren, mit denen aufgrund eines Zusammenwirkens der Beteiligten typischerweise zu rechnen war.57 In diesem Sinne verneint der BGH daher zutreffend eine Gefahrengemeinschaft, wenn ein Versicherter beim Aussteigen aus einem im Werksverkehr durch ein drittes Unternehmen eingesetzten Bus verletzt wird, da der Versicherte den Busfahrer nicht schädigen konnte bzw. die Gefahr, dass der Versicherte den Busfahrer beim Aussteigen schädigen konnte, rein theoretischer Natur war.58
1 Im Anschluss an Engelbrecht DAR 2011, 684
2 Partner der Sozietät Buse Heberer Fromm in Düsseldorf
3 Vergl. zu diesem Erfordernis für den Anspruchsübergang nach § 116 SGB X Engelbrecht DAR 2011, 684 (685)
4 Wellner in Geigel „Der Haftpflichtprozess“ 26. Auflage Kap. 32 Rn. 3
5 BGH DAR 2006, 631
6 Wellner a. a. O. Rn. 26
7 OLG Rostock 5 U 115/08 ADAJur 80438 und bei Lang SVR 2008, 468
8 Vgl. Euler in: Halm/Engelbrecht/Krahe Handbuch des Fachanwalts Versicherungsrecht 4. Auflage Kap. 25 Rn. 277
9 S. dazu Engelbrecht DAR 2011, 684 (687)
10 Vgl. BGH DAR 2002, 305 = NZV 2002, 266 = VersR 2002, 869 = r+s 2002, 241; OLG Hamm VersR 2010, 1058 mit Anm. Möhlenkamp
11 Vergl. dazu Engelbrecht DAR 2011, 684 (685)
12 BGH NJW 2012, 3639 (3640)
13 Kater in Kasseler Kommentar § 116 SGB X Rn. 176 m. w. N.
14 BGH zfs 2009, 625 (626)
15 BGH NJW 1999, 1782
16 BGH a. a. O. 1783
17 BGH a. a. O. 1782 f.
18 BGH a. a. O.
19 S. dazu Engelbrecht DAR 2009, 447
20 Vgl. BGH VersR 1984, 35 (36); BGH NZV 1990, 308 (309) = MDR 1990, 811
21 Vgl. BGH NZV 1990, 308 (309) = MDR 1990, 811
22 Vgl. Plagemann in Geigel „Der Haftpflichtprozess“ 26. Auflage Kap. 30 Rn. 32
23 Vgl. BGH r+s 2003, 524
24 Vgl. OLG Koblenz VersR 2002, 1579
25 Engelbrecht in Himmelreich/Halm, Handbuch der Kfz Schadenregulierung, Kap. 9 Rn. Rn. 54; vergl. auch Lang zu OLG Rostock SVR 2008, 69
26 BGH VersR 2013, 520
27 Vgl. BGH NJW 1977, 108
28 Vgl. OLG Frankfurt VersR 1985, 936
29 Vgl. OLG Rostock bei Lang SVR 2008, 69
30 Vgl. Plagemann a. a. O., Kap. 30 Rn. 82
31 Vgl. Plagemann a. a. O., Kap. 30 Rn. 79 m. w. N.
32 Vgl. Plagemann a. a. O.
33 BVerfG r+s 2011, 138.
34 BGH zfs 2011, 678 (682) = NJW 2011, 3715.
35 Vgl. OLG Koblenz VersR 2000, 1436 (Revision vom BGH nicht angenommen VI ZR 239/99) und bei Halm PvR 2001, 141.
36 Vgl. BGH DAR 2001, 1118 = VersR 2001, 215 = NJW 2001, 754 = zfs 2001, 106 = NZV 2001, 129.
37 Vgl. Halfmeier und Schnitzler VersR 2002, 11 (12).
38 Vgl. OLG Düsseldorf VersR 1969, 87 m. w. N.
39 BGH zfs 2011, 678 = NJW 2011, 3715
40 BGH a. a. O. m. w. N.
41 Vgl. dazu Engelbrecht DAR 2011, 684 (689)
42 Vgl. BG NJW 2001, 443 = VersR 2001, 336 = DAR 2001, 247 = ZfS 2001, 64; s. dazu auch die Anmerkung von Höher VersR 2001, 372
43 OLG Hamm VersR 2011, 1448
44 Vgl. BGH NJW 2001, 443 (444)
45 Kampen NJW 2012, 2234 (2235)
46 dazu auch OLG Hamm r+s 2000, 371 (372) = VersR 2001, 339 = zfs 2000, 292, bestätigt durch BGH VersR 2001, 372 ff. = zfs 2001, 206 f.
47 Vgl. BGH VersR 2001, 372 (373) = DAR 2001, 247 = zfs 2001, 206 (207)
48 Vgl. OLG Oldenburg DAR 2001, 408; s. auch OLG Köln VersR 2002, 575, s. dazu auch die Anmerkung von Engelbrecht PvR 2002, 138 f.; s. auch LG Aschaffenburg bei Lang SVR 2005, 190 – a.A. OLG Karlsruhe VersR 2003, 507
49 BGH VI ZR 152/10 VersR 2011, 882
50 Engelbrecht in Himmelreich/Halm Handbuch des Fachanwalts Verkehrsrecht 4. AuflageKap. 15 Rdn. 125 m. w. N.
51 Vgl. BGH VersR 2011, 1567 = r+s 2012, 102
52 BGH VersR 2013, 460 (461); s. dazu auch BGH VersR 2013, 862
53 Vgl. BGH r+s 2004, 126 (127) = VersR 2004, 381
54 BGH a. a. O.
55 BGH a. a. O.
56 Vgl. OLG Stuttgart NZV 2005, 319 und bei Lang SVR 2005, 270
57 Vgl. OLG Stuttgart a. a. O.
58 BGH VersR 2013, 862
Quelle: Von Andreas Engelbrecht, Rechtsanwalt, Düsseldorf, der Sozietät Buse Heberer Fromm in Düsseldorf